Nach der Fertigstellung der Straßenbahnlinie M 10 Richtung Turmstraße in Moabit ruft das Bild eines stinknormalen Berliner Mietshauses Erinnerungen an die Geschichte des Kiezes wach, der neben dem berühmten Untersuchungsgefängnis in Moabit liegt. Zu diesem Komplex gehört auch das Kriminalgericht
In der Schule mussten wir im Deutschunterricht „Bildbeschreibungen“ anfertigen. Daran erinnerte ich mich, als mir vor Kurzem ein Bild des Berliner Mietshauses Alt Moabit 126 in die Hände fiel. Ein Gebäude aus der Zeit des Kaiserreiches. Die Straße Alt Moabit führt in östlicher Richtung zur Moltkebrücke, welche die Spree überquert. Am anderen Ufer liegt das Kanzleramt, das gerade erweitert wird. Vorher passiert man das neu erbaute Bundesinnenministerium – auch das wird schon vergrößert – und das kleine Restaurant Berlin-Moskau. Was früher eine LKW-Fahrer Kneipe war, ist heute ein nobles Restaurant. Immerhin, den Namen haben sie gelassen. Auf der Höhe von Alt Moabit 126 zweigt linker Hand die Invalidenstraße ab, die zum Berliner Hauptbahnhof führt. Das zur groben Orientierung auch für Nichtberliner. Ich hatte in den Haus fünf Jahre gelebt.
Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1962. Auf den ersten Blick erscheint das Schwarzweiß-Foto banal. Das Haus selbst hatte die Luftangriffe des Krieges und den Endkampf bei der Eroberung Berlins im April 1945 überlebt. Aber es stand alleine, die Nachbarhäuser waren alle weg, zusammengeschossen oder kaputtgebombt. Das Eckhaus Werftstraße, also da, wo gegenüber die Invalidenstraße mündet, war nur notdürftig in Stand gesetzt. Es fehlten noch Teile der Obergeschosse und das Dach. Aber dem Bild nach zu urteilen existierte im Erdgeschoss eine Kneipe. Vielleicht war es auch ein Restaurant. Ja, das Bild hat einiges zu erzählen.
Ein Detail verrät noch die Existenz der Straßenbahn im damaligen Westberlin. Bis heute in Berlin kein banales Thema, eher ein Politikum. Auf dem Bild ist ihre Oberleitung zu sehen. Sie fuhr damals im Westen noch, also nach dem Mauerbau von 1961. Vor Alt Moabit 126 gab es eine Haltestelle. Am 2. Oktober 1967 fuhr schließlich die letzte Straßenbahn im Westen der durch die Mauer zerschnittenen Stadt. Nach damaliger Ansicht des Senats, im Osten nannte er sich Magistrat, passte eine Straßenbahn nicht in eine Weltstadt. Sie sollte durch U-Bahn und Busse ersetzt werden. Und natürlich träumten die Berliner auch vom eigenen PKW. Der Begriff Weltstadt lässt mich grinsen. Angebrachter wäre das Wort Trümmermetropole gewesen. Stattdessen starke PR-Sprüche. Aber schauen wir, was das Bild noch alles berichtet.
Am Straßenrand parken einige VW Käfer. Mehrheitlich haben sie das große Rückfenster. Also recht neue Fahrzeuge. Und ein Trabi steht auch am Straßenrand. Berlin in der beginnenden Automobilisierung. Den ideologischen Hintergrund für den Schwenk zur autogerechten Stadt bildete die Kampagne gegen den bösen Osten, also die DDR. Die Aufnahme des Hauses entstand kurz nach dem Mauerbau. Eine groß aufgezogene Propagandashow nach dem 13. August 1961 war der Boykott der S-Bahn. Sie befand sich im Besitz der Reichsbahn der DDR. Westberliner, die nach wie vor S-Bahn fuhren, kamen unter Druck. Es kursierte wieder das Wort von Herrn Schimpf und Frau Schande, die sich nicht vom bösen Osten distanzierten. Kommt mir bekannt vor. Solche Tendenzen hat es heute auch wieder. Nur eben grüner.
Es ging also der Straßenbahn in Westberlin an den Kragen. Wer U-Bahn und Auto fuhr oder zumindest BVG-Bus, gehörte zu den besseren Deutschen, wohlgemerkt Westdeutschen. Westberlin war ja schließlich Westen. Auf der verlassenen Haltestelle parkten jetzt die Autos der Anwohner. Auch mein VW-Käfer war dabei. Einer mit dem großen Rückfenster. Ja, damals in den 1970er Jahren konnten sich manche Studenten, die keinen reichen Papi hatten, einen Wagen leisten. Voraussetzung waren allerdings gutbezahlte Jobs, neben dem Studium oder in der vorlesungsfreien Zeit. Die gab es damals noch. Und billige Mieten. Die gab es in beiden Teilen der Stadt. Im Osten mehr als im Westen.
Ich war als Student 1972 in Alt Moabit 126 eingezogen. In eine der vier Wohngemeinschaften, die sich in den großen Offizierswohnungen einquartiert hatten. Da standen die neuen Häuser in der Nachbarschaft schon wieder. Auch die Ecke Werftstraße hatte wieder ein Dach über dem Kopf. Unten befand sich inzwischen eine Pizzeria. Aber durch den Mauerbau war der Kiez Sackgasse, also tote Hose. Oder freundlicher gesagt, es war eine der ruhigeren Ecken im ansonsten lebendigen Moabit. Immerhin gab es das Gerücht, im Haus hätte einmal die berühmt-berüchtigte Kommune I gewohnt. Also die, die auf einem bekannten Foto aus der 1968er Zeit dem Betrachter ihr Hinterteil präsentieren. In unserer ehemaligen WG-Wohnung befindet sich jetzt ein Hotel.
Bereits damals kritisierten Verkehrsplaner diese Entscheidung geegn die Straßenbahn. In den 1960er Jahren war aber der „Boykott“ angesagt. Im heutigen Sprachgebrauch ist das zur „Sanktion“ mutiert. Scheinbar ein normaler Vorgang im Zusammenhang mit Kriegen, ob kalte oder heiße. Die Straßenbahn kehrt auch nach über 30 Jahren erst sehr langsam nach Westberlin zurück. So lange wirken Ideologien und so schwer korrigierbar sind ihre Fehler. Ist das im biographischen Gedächtnis der Bürger präsent? Wohl kaum. Seit September 2023 fährt die Straßenbahn wieder bis ins Zentrum von Moabit zur Turmstrasse. Es ist die Linie M 10. Vor Alt Moabit 126 existiert auch wieder eine Haltestelle. Sie heißt Alt Moabit/Rathenower Straße. Großer Jubel, toll die Straßenbahn, welch ein Fortschritt. Für Alt Moabit 126 höchstens ein Déjà-vu.
In diesen zehn Jahren nach dem Mauerbau war viel gebaut worden. Verglichen mit der schwarzweiß Aufnahme von 1962 ist das unübersehbar und bewundernswert. Der Kiez war lebens- und liebenswert geworden. Das hatten wirksame staatliche Hilfsprogrammen und zinsgünstige Krediten bewirkt. Der Staat kümmerte sich intensiv um den Wiederaufbau. Westberlin war zum Schaufenster des Westens geworden. Seine Häuser und Wohnungen, das Wohnumfeld, seine Arbeitsplätze und die Mobilität sollten strahlen, die Überlegenheit des Westens, also des Kapitalismus, beweisen. Das ließ man sich etwas kosten.
Natürlich war Deutschland nach dem verlorenen Krieg zur US Kolonie degradiert und Berlin in vier Zonen aufgeteilt worden. Nach dem Mauerbau musste die Wessis sogar Eintritt in die DDR zahlen. 25 Westmark pro Tag. Beide Stadthälften hatten eben ihre Aufgabe im Rahmen des Kalten Krieges. Ostberlin war Hauptstad der DDR und in Westberlin war man stolz darauf, Frontstadt des Westens zu sein. In Alt Moabit 126 waren die ehemaligen Offizierswohnungen im Vorderhaus zu groß für den Geldbeutel der Normalberliner. Wer brauchte auch schon 250 m2 Wohnraum. So kamen die WGs zum Zuge. Kollektiv ließ sich das bezahlen. Vom Balkon aus konnte man den Ostberliner Fernsehturm sehen. Den Lebensstil dieser Zeit fanden viele geil. Ich eingeschlossen.
Heute hat sich der Charakter der USA, dem Hegemon des globalen Westens, verändert. Mit ihm der Charakter unseres Landes. Eine Fronstadt Berlin brauchen die Amis jetzt nicht mehr. Diese Aufgabe muss die Ukraine erfüllen. Leider mit weniger Fortune als Westberlin. Die Wirtschaft ist nicht mehr die des Industriekapitalismus, der in der Lage war, Wirtschaft oder Wohnungsbau auf großer Stufenleiter zu betreiben. Seit rund drei Jahrzehnten handelt es sich mehr und mehr um eine neue Ära des Geschäftemachen. Deren Investitionen befassen sich immer weniger mit der Wertschöpfung, die man nach China „ausgelagert“ hat. Stattdessen betreiben die Superreichen den An- und Verkauf vorhandener Werte. Und werden damit noch reicher.
Deren Tätigkeiten des Kapitaleinsammelns nennt sich „Private Fonds“, „Private Equity Fonds“ oder „Venture Capital“. Ihr Ziel sind „best performing Assets“, also profitabelste Verkäufe auf Märkten, die mit dem herkömmlichen Aktienhandel, welcher der produktiven Investition diente, nichts mehr gemein haben. Im Gegenteil, bestehende Unternehmen aufzukaufen, zu zerlegen und dann gewinnbringend zu verscherbeln ist das stolze Ziel dieses kleinen Ein-Prozent-Anteils der Gesellschaft. Inzwischen hat sich das im Globalen Westen zum Finanzkapitalismus ausgewachsen, weltweit gesprochen zum westlichen Finanzimperialismus. Das sieht man Berlin inzwischen an.
Was ist in den zehn Jahren von 2014 bis 2024 an Wohnungen gebaut worden? Also an Wohnungen, in denen normale Menschen leben können? Die sie auch bezahlen können? Keine Bürogebäude, Hotels und Verwaltungskomplexe. Oder Nostalgiepaläste, die an ehemaligen Glanz & Gloria längst entschwundener Zeiten erinnern und die die Illusion von Größe und Bedeutung wachhalten sollen? Warum fällt mir dabei immer der Neu- bzw. Wiederaufbau der alten Preußenschlösser ein. In Berlin wie in Potsdam. Im Vergleich zum Jahrzehnt von 1962 bis 1972 ist der Wohnungsbau heute mickrig. Rechnet sich für die Investoren zu wenig oder nicht in dem erwünschten Zeitraum. Das Ganze hat eine Tendenz abwärts. Es kam nicht über Nacht. Und so wird es weiter gehen.
Der Staat ist längst der größte Schuldenmacher. Die Zahlungen von Zins und Zinseszins wiegen immer schwerer. Deswegen verrottet die Stadt – Sparpolitik nennt sich das. Auch die Bürger geraten als Individuen in die Schuldenfalle, aus der sie, mathematisch nachweisbar, nicht wieder herauskommen werden. Im Gegenteil. Welcher Normalbürger kann noch Zins und Zinseszins berechnen? Früher lernte man das in der Berufsschule. Die Schuldenfalle wird barbarischer und zerstört Mensch und Gesellschaft von innen heraus. Gibt es einen Ausweg? In früheren Generationen hofften sie auf die „Weltrevolution“. Die gab es ja im Osten, war aber ein Flop. Heute werden kleinere Brötchen gebacken, die gleichwohl global, dezentral und in der Verantwortung und nach dem Willen der einzelnen Völker laufen. Multipolarität eben. Alt Moabit 126 hat fast alles erlebt und bisher überstanden. Und die Straßenbahn haben wir schon wieder. Immerhin ein Anfang. Fehlt die Multipolarität. Kommt noch!
Nachweise und Quellen:
Jürgen Grothe, Ein Spaziergang durch Moabit, Berlin (antiquarisch)