Die Nato feierte ihr 75jähriges Bestehen, beschwört ihre Einigkeit und Stärke, obgleich das den Gegebenheiten total widerspricht. Tatsächlich befindet sich das Bündnis in seiner tiefsten Krise, militärisch, ökonomisch und diplomatisch. Teil 1.
Das Attentat auf Donald Trump am 13. Juli 2024 bestimmt noch immer die Schlagzeilen. Obwohl mit dem republikanischen Nominierungsparteitag inzwischen das nächste Großereignis die Systemmedien beherrscht, inklusive der Nominierung Trumps zum Präsidentschaftskandidaten und J.D. Vance zum Vizepräsidentschaftskandidaten, wird das eine Weile so bleiben. Für den republikanischen Präsidentschaftsbewerber wird der Mordversuch wohl die sichere Wahl im November 2024 bedeuten, obwohl es noch nahezu vier Monate bis zur Wahl sind. Trump steht jetzt als Held da, aber wir sind keine Propheten und warten ab. Wahlen sind in der westlichen Welt recht oberflächliche und unbedeutende Ergebnisse. In der Regel ändern sich nur die Personen, aber nicht die Politik. Stellt sich also die Frage, welches sind die wichtigeren Ereignisse des letzten Monats jenseits des Mordversuchs, die in den Hintergrund gedrängt wurden oder es gar nicht auf die ihnen gebührenden vorderen Plätze geschafft haben. Oder aus der Berichterstattung sowieso ausgegrenzt sind.
Gab es denn solche wichtigen Ereignisse? Oh ja, es gab sie sehr wohl. Zum einen feierte oder sagen wir besser, zelebrierte die Nato vom 9. bis 11. Juli 2024 ihr 75-jähriges Bestehen. Zum anderen gab es die Jahrestagung der SCO, der Shanghai Cooperation Organisation, die fast zeitgleich stattfand. Die kennt man hierzulande noch kaum. Sie ist neben den BRICS der wichtigste Zusammenschluss der Länder jenseits der anglo-amerikanischen Welt. Wir werden im zweiten Teil dieses Artikels näher auf die SCO eingehen und warum wir sie für bedeutsam halten. Zuerst das NATO-Jubiläum. Fünf Tage nach dem 24. Gipfeltreffen der SCO, beschwor das Nordatlantische Bündnis seine Einigkeit und Stärke, obgleich das den tatsächlichen Gegebenheit nicht entspricht. Das „Project Ukraine“, also der Krieg der Nato gegen Russland, steht nach wie vor im Mittelpunkt, wird mit weiteren Milliarden am Kochen gehalten und von der Biden-Administration mit einer Besessenheit verfolgt, die uns Deutschen verdächtig vorkommen sollte. Allerdings dürfen ab sofort die europäischen „Verbündeten“ einen größeren Teil der Kosten tragen. In diesem Feldzug sind die Russen wieder die Bösen, die vom guten Westen besiegt werden müssen. Wer sich auch nur Video-Ausschnitte des Jubiläums zugemutet hatte, dem fiel die enorme Aggressivität auf, die in allen Reden mitschwang.
Russland sei eine Bedrohung des Friedens und China, das mit Russland verbündet ist, müsse die Zusammenarbeit mit diesem Land sofort einstellen. Das wurde auch in der Abschlusserklärung des Nato-Gipfels explizit von China gefordert. Nicht die wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen, sondern letztlich eine Unterwerfung Chinas wurde von der Nato als strategisches Ziel ausgegeben. Zum ersten Mal wurde von Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärt, dass China eine Mitverantwortung für den Ukrainekrieg trage, denn ohne China könne Russland den Krieg nicht führen. Dementsprechend wird China mit wirtschaftlichen Sanktionen bedroht, was selbstredend auch für die Europäer gilt, welche alle US-Maßnahmen übernehmen müssen. Ein Wirtschaftskrieg mit China, den die Nato beschlossen hat, wird die wirtschaftlichen Probleme der europäischen Vasallen weiter anwachsen, ja explodieren lassen.
Nach 75 Jahre der Nato wurde jetzt deutlich formuliert, dass sie in Zukunft eine globale Organisation werden müsse, die weltweit die Interessen des Hegemon, also der USA, vertritt. War das Bündnis in der Zeit des Kalten Krieges auf Europa und den Systemkonflikt fixiert, der den alten Kontinent spaltete – man könnte auch sagen, sie war geographisch beschränkt – so begann nach dem Zusammenbruch des Sozialismus eine neue Phase. Nämlich die Nato-Osterweiterung. Sie ging bis vor die Haustüre Moskaus und mündete in dem Versuch, Russland in einer militärischen Auseinandersetzung, die vom Stellvertreter Ukraine geführt wird, unter Nato-Kontrolle zu bringen. Der Ukrainekrieg lässt sich als eine dritte Phase der Nato festmachen. Die jetzt beschlossene Ausdehnung, gewissermaßen eine vierte Phase, beschränkt sich nicht auf Asien und den indopazifischen Raum. Die Nato hat sich jetzt auch für Westasien und Afrika zuständig erklärt. Ein neues Kommando für diesen Raum soll in Jordanien entstehen.
Das, was in der Erklärung des Bündnisses formuliert wird, ist eine Skizze des Unilateralismus, der US-Vorstellungen über ihre endgültige Weltherrschaft. Man könnte es auch als Blaupause für den Weg dahin verstehen. Die großspurigen Absichten und Forderungen gegenüber dem „Rest der Welt“ basieren auf der kriegerischen Philosophie, Amerika sei und bleibe „die einzige unverzichtbare Nation.“ Alle anderen Nationen und Staaten seien „verzichtbar“ und müssten sich den amerikanischen Ansprüchen unterwerfen. In meinem Text vom 5. Juli 2024 hatte ich mit diesem Satz Ex-Präsident Barack Obama zitiert, aber auch Joe Biden hat sich vielfach so geäußert. Es ist das Bild der neuen Weltordnung, von der die gegenwärtige Bundesaußenministerin Annalena Baerbock so begeistert schwärmt. Allerdings steht diese Propaganda im krassen Gegensatz zur aktuellen Lage des Bündnisses. Der Ukrainekrieg ist verloren, Russland führt diesen strategisch als Abnutzungskrieg mit dem Ziel, den Westen und die Nato militärisch, vor allem aber auch ökonomisch und diplomatisch entscheidend zu schwächen.
Die westlichen Sanktionen haben Russland wirtschaftlich eine Reihe gravierender Vorteile gebracht. Der Neoliberalismus, der von sich glaubt, ökonomisch richtig zu liegen, hat nur eine über 200 Jahre alte, verstaubte Wirtschafstheorie aus der Mottenkiste hervorgeholt. Mit ihr wollen seine Apologeten Kolonialismus und Imperialismus, also die Ausbeutung der Welt, wegtheoretisieren. Was anfänglich als Erfolg von Privatisierung und Finanzwirtschaft aussah, ist längst ins Gegenteil umgeschlagen. Zwar wird das von den Systemmedien und Bildungseinrichtungen des Westens ignoriert, aber nur außerhalb der angloamerikanischen Welt. Hinter vorgehaltener Hand sprechen die ersten westlichen Politiker vom Schuss ins eigene Knie. Der Ukrainekrieg und der Völkermord in Gaza haben dem „Rest of the World“ die Bedeutung einer multilateralen Weltordnung deutlicher denn je vor Augen geführt. Sie propagiert die Selbstbestimmung und ein friedliches Zusammenleben als Grundprinzip der Weltordnung und ist längst zum globalen Gegenentwurf von Nato und EU geworden.
Die Nato und ihre Führungsmacht USA wollen nun auch noch China in die Knie zwingen. Diese Blindheit und der sie tragende ökonomische Unverstand haben die USA und die Nato in kurzer Zeit in eine weltweite Isolation geführt. Ihr kriegerisches Credo stößt auf Ablehnung und Abscheu. Es entspricht nicht den Interessen und Wünschen der Völker. Aber die Nato und der Hegemon wollen das nicht zur Kenntnis nehmen. Sie halten am Project Ukraine und an der Unterstützung des Zionismus in Israel als Stellvertreter fest. Und sie glauben nicht, dass sie mit der wachsenden De-Dollarisierung ökonomisch längst im Abseits stehen. Nicht nur in Deutschland macht sich eine Deindustrialisierung breit, sie hat das gesamte christliche Abendland, um es einmal so zu formulieren, erfasst. Und sie wird von den USA und deren Statthaltern in EU und Nato weiter angefacht. Aber es knistert im Nato-Gebälk.
Die Absichtserklärung der Nato wurde zwar von allen Mitgliedern unterschrieben, aber beileibe nicht alle schienen begeistert zu sein. Von Victor Orban und dem Slowaken Robert Fitzow war das bekannt. Auch dass die Türkei, der einzige Natostaat mit einer großen und kampfstarken Armee, sich vom Bündnis abwendet, ist offensichtlich. Ihre strategischen Präferenzen liegen längst bei BRICS und SCO und einer Annäherung an Syrien und die arabische Welt. So war denn die zelebrierte Einigkeit der Nato nichts als ein großer Bluff. Die Stimmung unter den Vertretern der 32 Mitgliedsstaaten verglich ein westlicher Beobachter anfänglich mit der einer Beerdigung, um dann gegen Ende der Veranstaltung davon zu sprechen, sie sei in einen Zirkus übergegangen.
So weit der Teil 1
Der 2. Teil, der sich mit der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) befasst, folgt demnächst.
Quellen und Verweise:
Rand Paul, in The American Conservativ, 16. Juli 2024, The Missed Opportunity for Peace at Nato’s Washington Summit, The Biden administration is committed to continuing its errors in Ukraine
Die Zeit, 10. Juli 2024, Stoltenberg kündigt Nato-Kommando für Sicherung der Ukrainehilfen an
Nato, 10. Juli 2024, Washington Summit Declaration